Karls Glück
Es war einmal ein Mann namens Karl, der war ganz allein und
hatte kein Geld, kein Auto, kein Haus und keine Yacht. Nur die
Kleider, die er am Leib trug und seinen treuen GPS-Empfänger. Sein
Magen war leer und knurrte so fürchterlich, dass alle Leute, die er
traf, einen weiten Bogen um ihn machten. So mied er die Dörfer und
wanderte über die Felder, in der Hoffnung, eine Kartoffel oder eine
Rübe zu finden.
Doch er fand nichts zu essen, sondern nur ein altes, hutzeliges
Weiblein, das weinend am Wegesrand saß. "Was fehlt dir?" fragte er.
Die Alte jammerte: "Ich habe meinen Orientierungssinn verloren und
weiß nicht mehr, wie ich nun nach Hause finden soll." Wie sie so
heulte und schluchzte, dauerte sie den Karl, und er beschloss, ihr
sein GPS-Gerät zu überlassen. Und gerade, als er es ihr in die
runzlige Hand gelegt hatte, da wurde diese Hand ganz zart und rosa
- und aus dem alten Weiblein wurde eine wunderschöne Fee. Sie gab
ihm das Gerät zurück, das sich in das neueste Modell am Markt
verwandelt hatte, und sagte: "Karl, ich wollte dich nur prüfen.
Weil du schon so viel Pech im Leben gehabt hast, sollst du nun dein
Glück finden." Sie schwang ihren Feenstab und zauberte ihm ein
Koordinatenpärchen. "Gehe dort hin und finde meinen Sternenstaub,
er wird dich zu deinem Glück leiten." Verdutzt blickte Karl auf die
Koordinaten - und da war die Fee schon verschwunden. Er tippte die
Stellen in seinen GPS-Empfänger und versteckte sie dann zwischen
zwei Bäumen, die dicht nebeneinander standen.
Nun machte er sich auf, den Sternenstaub zu finden. Er kam in
ein Tal und schließlich bis an den Rand eines Wäldchens, an dem
jedoch ein Wachzwerg auf einem langbeinigen Stuhl saß. "Halt" rief
der Zwerg, "dies ist der Feenwald, und Unbefugte haben keinen
Zutritt!" Da wollte Karl schon umdrehen, doch der Zwerg lachte ihn
nur aus: "Ich wollte dich nur zum Narren halten, junger Freund.
Dieser Wald steht jedem offen, der ihn findet. Doch sei vorsichtig,
hier treibt sich in der Dämmerung ein recht seltsam Volk herum."
Karl dankte dem Zwerg und ging weiter. Manchmal glaubte er, den Weg
verloren zu haben, doch sein GPS-Receiver leitete ihn sicher zum
Ziel. Unter einer verwunschenen Wurzel fand er den Sternenstaub in
einem kleinen Glasröhrchen. Als er das Röhrchen öffnete, flog ein
Teil des glitzernden Staubs in die Luft und tanzte vor seiner Nase.
Schnell verschloss er den Behälter wieder, legte ihn zurück und
tarnte ihn gut.
Nun begann der Staub bergab zu fliegen, und Karl folgte ihm, so
schnell er konnte. Am Zwerg vorbei ging der Weg aus dem Wald hinaus
und den Hügel hinauf. Schnell flog der Staub und schnell rannte
Karl. Er sah nicht nach rechts noch nach links, sondern heftete
seinen Blick fest auf den Sternenstaub, auf dass er ihn nicht
verlieren würde. Der Staub war aber so nett, nur über Wege zu
fliegen, so dass Karl nicht querfeldein stolpern musste. Am Abend
gelangten sie zu einem kleinen Haus. Der Sternenstaub ließ sich
müde auf einem Steinhaufen nieder und schlief ein. Derweil bemerkte
Karl einen Zettel an der Tür: "Bin gegen 21 Uhr zurück." Karl
wartete sehr lange, doch der Besitzer des Hauses kam und kam nicht.
Mittlerweile krähte der Hahn und Karl hatte vor Hunger die gesamte
Außenverkleidung des Hauses aufgegessen, denn die hatte aus
feinstem Lebkuchen bestanden.
Da überkam Karl ein dringendes Bedürfnis, das er nicht direkt
neben dem Haus verrichten wollte, sondern lieber etwas abseits. Er
ging von der Hütte aus gut vierzig Schritte nach Nordwesten und
tat, was er tun musste. Als er fertig war, fiel ihm ein schwarzer
Stein auf, der in einem Baum steckte. Es sah ganz so aus, als sei
der kleine Stein mit solcher Wucht in den Baum gefahren, dass er
ihn etwa in Menschenkopfhöhe gefällt hatte. Das machte Karl
neugierig. Er besah sich die Stelle genauer und fand einen
grünbedeckelten Elfenpetling, der mit dem Stein verbunden war. Ein
winziges Zettelein lag darin. Karl konnte den Hinweis, der auf dem
Zettel stand, durch das Glas hindurch lesen, und machte sich sofort
wieder auf den Weg, denn er fand, dass es jetzt endlich Zeit sei,
sein Glück zu finden.
Der Hinweis führte ihn nach oben auf einen Berg. Aber dort war
nichts in der Nähe, was sein Glück hätte sein können. So begann
Karl mit bloßen Händen zu graben. Er wusste nicht warum, aber er
hatte ein Gefühl, dass die Erde hier einen besonderen Schatz für
ihn bereit hielt. Und siehe da: Er fand rote Steine, die ihm sehr
gut gefielen. Er sammelte so viele Steine, wie er tragen konnte,
und brachte sie in ein Dorf, wo ein Händler ihm alles abkaufte. So
verkaufte Karl Tag für Tag Zinnober (denn so hießen die Steine) im
Dorf und gelangte zu einem gewissen Vermögen. Er baute bald auch
einen Ofen, mit dem er den Zinnober an Ort und Stelle in lebendes
Silber umwandeln konnte, und stellte viele Arbeiter ein.
Der Berg, an dem Karl den Zinnober und vielleicht auch sein
Glück gefunden hat, ist heute ganz ausgehöhlt. Doch trotzdem kann
man an einer Felswand in der Grube immer noch ein kleines
Schätzchen finden. Wenn niemand es mitgenommen hat, so liegt es
noch immer dort.