Kleine Philosophie des Fahrradfahrens
Der Wind rauscht in meinen Ohren, ich beuge mich ein bisschen tiefer über die Lenkstange. Je stärker der Wind mir entgegenbläst, desto kräftiger trete ich in die Pedale: links, rechts, links, rechts. Ich spüre meinen Atem schneller werden. Endlich biege ich ab und der Widerstand lässt nach. Mit dem Wind im Rücken richte ich mich auf, strecke die Arme zur Seite – und glaube, jeden Moment abzuheben.
Wenn wir Fahrrad fahren, erfahren wir uns ein Stück Freiheit. Jeden Tag aufs Neue, wenn die S-Bahn streikt oder der Benzinpreis steigt. Aber auch in unserer persönlichen Entwicklung, wenn wir uns damit nach und nach die Welt erobern. Für den französischen Ethnologen Marc Augé ist das Fahrrad untrennbar verbunden mit dem Erwachsenwerden:
„Das Fahrrad ist Teil unser aller Lebensgeschichte. Es fahren zu lernen, knüpft sich an besondere Momente unserer Kindheit und Jugend. Durch das Fahrrad hat jeder ein bisschen von seinen körperlichen Fähigkeiten entdeckt und eine Kostprobe der Freiheit erfahren, die sich damit verbindet.“
Fahrradfahren macht uns freier. Und konfrontiert uns zugleich mit den Grenzen dieser Freiheit: Meine eigenen begrenzten Fähigkeiten – wenn ich hinfalle oder einen Berg nicht schaffe. Die Widerständigkeit des technischen Materials – wenn mal wieder die Kette abspringt oder die Luft raus ist.
Und so stachelt uns das Radfahren im Idealfall auch dazu an, Widerstände zu überwinden, Grenzen zu verschieben: „Auf eure Räder, um das Leben zu ändern! Radsport ist Humanismus“, wie Marc Augé schreibt.
Für Marc Augé ist das Fahrradfahren Ausgangspunkt für eine ‚effektive urbane Utopie‘: technischer Fortschritt, der allen gut tut und niemandem schadet. Ökologisch nachhaltig und gesellschaftlich egalitär. Bis zur Verwirklichung dieser Utopie ist es noch ein steiler Weg. Mit ein paar mehr Radwegen ist es nicht getan. Aber möglich ist sie. Schalten wir also ein paar Gänge runter, um den Anstieg zu schaffen.