Waldemar Wiesengrund (Name geändert) war ein typischer
Jugendlicher der 1980er Jahre. Er hatte lange, bunte Haare,
schmiedete Schwerter zu Pflugscharen und kämpfte gegen das
Waldsterben und die Vergiftung der Gewässer, der Böden und der Luft
mit Industrieabfällen, Autoabgasen und künstlichen Chemikalien. Auf
seinem Fahrrad gab es einen Aufkleber mit dem Spruch von einem
Indianerhäuptling. Kinder hatte er zwar keine, von diesen aber
schon einmal einen Planeten geliehen.
Um die Natur besser vor dem schädlichen Einfluß der Menschen zu
bewahren, studierte er Biologie und spezialisierte sich auf
Botanik.
Während der politischen Wende wirkte er an der Gründung der
Ortsgruppe der Grünen Partei der DDR mit. Zunächst weckte die Wende
zahlreiche Hoffnungen auf Verbesserungen. 1989 durften erstmals
Messungen über Gewässerbelastungen durchgeführt und die Ergebnisse
veröffentlicht werden. Die neue Regierung der DDR verkündete, daß
die Wirtschaft der DDR eine Dreckschleuder sei und daß es so nicht
weitergehen könne. Bald wurden strenge Richtlinien erlassen.
Auch die Einheit sah Wiesengrund positiv. Zum einen wurden viele
der Betriebe, die die Umwelt belasteten, geschlossen. Zum anderen
erhielt Wiesengrund eine gut ausgestattete Professur an der
Universität Leipzig in der Biologischen Fakultät. Dort gab er
regelmäßig Vorlesungen zum Thema "Wie der Schutz der Natur die
Gesundheit der Menschen verbessert".
Doch dann änderte die sächsiche Staatsregierung ihren
politischen Kurs. Wirtschaftswachstum war nun das Wichtigste, denn
nur eine Regierung, die die Arbeitslosigkeit effektiv bekämpfen
würden, würde gewählt werden. Wiesengrund sah sich bald nur noch
als ökologisches Feigenblatt. Seine Vorschläge wurden mittels
Salami-Taktik kleingeredet und untergebuttert. Beim Bau des neuen
BMW-Werkes wurden zahlreiche Bäume gefällt, aber keine
Ein-Liter-Autos in Produktion gegeben. Für Wiesengrunds Professur
wurden allmählich die Mitarbeiterstellen zusammengestrichen, und
die DFG lehnte diverse Forschungsanträge ab. Die Studenten der
1990er Jahre im neuen, verschulten Bachelor/Master-Studiengang
wandten sich neoliberalen Ideologien zu. Sie sahen sich nicht mehr
als Retter der Wale und Wälder, sondern als Humankapital, das sich
selbst zu vermarkten hat, und achteten daher nur noch auf ihre
Karrieren, um bei einem Unternehmen unterzukommen, daß den
Indianern des Regenwaldes ihre natürlichen Heilpflanzen wegnahm. Zu
Ostern wurde nicht mehr für den Frieden demonstriert, stattdessen
fuhr man zur Love Parade, um im XTC-Rausch zu Techno-Gewummere die
Berliner Parks einzusauen. Die Kinder, denen Wiesengrund einen
gereinigten Planeten zurückgeben wollte, erwiesen sich als ebenso
schreckliche Müllproduzenten, Luftverpester und Auto-Rüpel wie ihre
Vorfahren.
Irgendwann gab es einen Knacks bei Professor Wiesengrund. Sein
Rauschebart wurde chaotischer. Seine Vorlesungen und Seminare
hatten nun Titel wie "Gäa ohne Homo insapiens", "Die Umwelt braucht
uns nicht" oder "Die Rache der Natur". Er pflegte immer weniger
Kontakt zu Kollegen, reiste nicht mehr auf Konferenzen,
vernachlässigten seine Aufgaben. Immer mehr Zeit verbrachte er in
seinem hermetisch abgeschotteten, abseits gelegenen
Forschungskomplex, zu dem außer ihm de facto niemand Zugang hatte.
Jahrelang wußte niemand, was er dort trieb. Offiziell gab er ein
Forschungsprojekt an, für das er extrem niedrige Kosten
veranschlagte und daß er mit zahllosen nichtssagenden, aber
unverständlichen Fremdwörtern beschrieb, so daß niemand so genau
nachfragte. Der Dekan der Biologen war froh, daß er dem Sächsischen
Kultusminister melden konnte, daß Wiesengrund endlich "mit der
Züchtung einiger exotischer Schlingpflanzen ruhiggestellt" sei.
Zunächst fiel es gar nicht auf, daß einige Studenten fehlten.
Die meisten waren in Leipzig ohnehin nur mit dem Zweitwohnsitz
gemeldet und in den Semesterferien oft monatelang nicht anwesend.
Wenn doch mal ein Student bei der Polizei als fehlend gemeldet
wurde, dann hieß es oft "Nicht weiter schlimm, wenn da einer fehlt.
Diese Studenten arbeiten eh nicht, alles nur faule Mitesser. Und am
Ende wollen sie dann ein Riesengehalt beziehen und uns Vorschriften
machen." oder "Sind nur Kerle. Das ist gut für die Statistik, wenn
es da ein paar weniger sind. Uns fehlt es an jungen,
hochqualifizierten Frauen, weil die alle in den Westen abhauen."
Erst als einige wohlsituierte Bürger aus Holzhausen nicht mehr
auftauchten, wurden intensivere Ermittlungen eingeleitet.
Schließlich kam alles ans Licht. Die Polizei erhärtete den
Verdacht gegen Wiesengrund und bewirkte einen richterlichen
Durchsuchungsbefehl für seinen Forschungskomplex. Dieser mußte
gewaltsam aufgebrochen werden. Für das, was dann rechts gleich
hinter dem Haupteingang am Schornstein des "Menschenstalls" genau
geschehen ist, gibt es keine unabhängigen Zeugen. Unterschiedliche
Beamte machten widersprüchliche Aussagen. Einige sagten,
Wiesengrund habe sich durch einen Sprung selbst gerichtet, andere
sprachen von einem Unfall, der den tödlichen Sturz bewirkt haben
soll.
Bei der Durchsuchung des Geländes fand man heraus, daß der
Professor eine neue Pflanze züchtete, die er "Tentaculata rabiata
antihumana" nannte, eine Kreuzung aus Schlingpflanze und
Fleischfressender Pflanze. Zwei Studenten konnten noch lebend aus
einem Verlies befreit werden. Man fand auch Videoaufnahmen, die
zeigten, wie die Opfer an Ketten über den Pflanzen hingen und
langsam verdaut wurden. Offenbar wollte Professor Wiesengrund
Pflanzen schaffen, die sich sehr schnell ausbreiten, alle Menschen
verschlingen und ihre Bauwerke zerstören würden, um so die Erde in
einen menschenfreien Zustand zurückzuversetzen. Außerdem züchtete
er Riesenratten, die selbst resistent gegen Krankheiten wie AIDS
sein, aber viele Menschen anfallen, beißen und infizieren sollten,
um so den Prozeß der Befreiung der Erde schneller
voranzutreiben!
Nach dem offiziellen Abschluß der Untersuchungen wurde die
Einrichtung zerstört. Die Pflanzen wurden oberflächlich mit
irgendeiner Chemikalie besprüht und knickten ein. Irgendein
Staatssekretär formulierte eíne Verordnung, die das Betreten des
Geländes untersagte; diese wurde irgendwo abgedruckt und
abgeheftet; der Aktenordner setzt in irgendeinem hinteren Regal
Staub an.
Gerüchte hielten sich, daß der Professor irgendwo noch
Unterlagen zu seinen Forschungen oder einen geheimen Schatz aus
unterschlagenen Greenpeace-Spendengeldern versteckt haben soll,
doch nie wurde etwas gefunden. Niemand glaubte an die angebliche
Geheimbotschaft, die der Professor eine Minute vor seinem Tod noch
hinterlegt haben soll.
So wuchs Gras über die Sache. Die verlassene Einrichtung zerfiel
und wurde vergessen. Wiesengrunds Professur wurde nicht neu
besetzt. Ökologisch motivierte Foschung geriet gänzlich in
Mißkredit und wurde eingestellt. So kann ein einziger Übeltäter
eine gesamte Gruppierung in Mißkredit bringen! Die eingesparten
Forschungsgelder flossen in die "Bio City" Leipzig, wo die
Wissenschaftler nun heimlich versuchen, versklavte Embryonen zu
klonen und genetisch so zu manipulieren, daß sie resistent gegen
giftige Chemikalien sind und daher in der verseuchten, verstrahlten
und vergifteten natürlichen Umwelt der Zukunft besser angepaßt
überleben.
Und niemand stellt die Frage, ob es nur Gras ist, was da wächst
...
Gibt es wirklich Wagemutige, die mit einem großen, breiten
Kreuzschraubomaten und einer Taschenlampe bewaffnet der Sache auf
den Grund gehen wollen? Bei manchen unheimlichen Orten kommt es
gelegentlich vor, daß wachsame Anwohner nachts gedämpfte Schreie
hören. Doch hier nicht - hier gibt es keine Anwohner ...
Bislang weiß man nur von einer Gruppe Dschungelforscher, die
lebend zurückgekehrt ist. Sie berichtete allerdings, auf ein
Gebäude gestoßen zu sein, in dem Wiesengrund Riesenratten gezüchtet
hatte. Diverse Kadaver dieser Tiere hatte die Gruppe in einem wenig
reinlichen Haus vorgefunden, von denen die meisten in einem
überfluteten Keller vor sich hin verwesten. Darüber war sie derart
schockiert gewesen, daß sie nicht weiter ins Innere des Geländes
vorgedrungen war, sondern schleunigst die Flucht ergriffen
hatte!