Robin
Hood gewinnt den goldenen Pfeil Bei der Kirmes in Nottingham fand
in jedem Herbst ein großer Schießwettkampf statt. Es war Sitte, daß
sich dazu die besten Bogenschützen Englands einfanden. Und ebenso
strömten die Zuschauer von nah und fern herbei. In diesem Jahr
hatte der Sheriff von Nottingham als Preis für den Sieger einen
Pfeil aus purem Gold ausgesetzt. Damit wollte er die Anwesenheit
des Regenten ehren, denn Prinz Johann hatte es sich nicht nehmen
lassen, nach Nottingham zu kommen, um dem Wettschießen
beizuwohnen. Er
hatte Freude an solchen kriegerischen Spielen. Als der Tag des
Wettkampfes gekommen war, lachte die Oktobersonne vom blauen
Himmel. Draußen, vor der Stadt, auf einer großen Wiese, wurden die
Ritterspiele und auch das Bogenschießen ausgetragen. Für die feinen
Herrschaften waren Tribünen errichtet worden, das einfache Volk
stand beiderseits der abgesteckten Schießbahn. Für den Wettkampf im
Bogenschießen hatten sich über dreißig Teilnehmer gemeldet. Man
hörte klangvolle Namen, die jedermann bekannt waren, denn die Kunst
des Bogenschießens war sehr verbreitet, vor allem unter den
einheimischen Sachsen, aber auch bei den normannischen Rittern. Und
für die Angehörigen der Leibwache des Prinzen war es eine
Selbstverständlichkeit, sich Tag für Tag in dieser Kunst zu üben.
Der Wettkampf begann mit einem Schuß auf eine kopfgroße Scheibe aus
einer Distanz von hundert Fuß. Wer die Scheibe traf, durfte am
weiteren Wettkampf teilnehmen, wessen Pfeil sie verfehlte, mußte
ausscheiden. Sechsunddreißig Pfeile wurden nacheinander
abgeschossen, doch nur zehn trafen das Ziel. Ein Hornsignal
ertönte. Das war das Zeichen für den Beginn des zweiten Durchgangs.
Auf den Tribünen bei den feinen Herrschaften wurde die
Aufmerksamkeit größer, nachdem die erste Auslese getroffen war.
Eine neue Scheibe wurde aufgestellt. Sie hatte nur noch die Größe
eines Apfels, die Entfernung aber betrug jetzt hundertfünfzig Fuß.
Wieder hatte jeder Schütze einen Schuß. Als diese Runde vorbei war,
hatten nur drei Pfeile die Scheibe getroffen. "Wie erwartet,
Gilbert von Leicester und Hubert von Staffordshire," sagte auf der
Tribüne Prinz Johann zu einer hübschen Hofdame. "Doch wer ist der
dritte Schütze, mein Prinz?", erkundigte sich die Schöne. Prinz
Johann winkte einen seiner Knappen heran und beauftragte ihn, sich
nach dem Namen des Schützen im grünen Gewand mit der Fasanenfeder
am Hut zu erkundigen. "Er nennt sich Robert von Locksley," sagte
der Knappe, als er wenige Augenblicke später zurückkam. "Von den
Herrschaften hat ihn noch niemand gesehen." Der Knappe irrte sich.
Ganz hinten, am Ende der Tribüne, saß ein Mann, der genau wußte,
wer dieser Robert von Locksley war. Doch der Steuereinnehmer des
Sheriffs zog es vor, sein Wissen vorläufig noch für sich zu
behalten. Wieder bliesder Herold ins Horn, als Signal für den
dritten Durchgang. Entfernung zweihundert Fuß auf eine Scheibe,
deren schwarzes Zentrum nicht größer als eine Pflaume war. Erneut
flogen drei Pfeile. Die Zielrichter fanden schnell heraus, daß ein
Pfeil das Ziel verfehlt und Hubert von Staffordshire deshalb
ausgeschieden war, aber sie brauchten lange, um festzustellen, daß
die anderen beiden Pfeile eng nebeneinander im Ziel steckten und
kein Sieger zu ermitteln war. Prinz Johann hob die Hand. "Jeder
schießt noch einen Pfeil," sagte er. "Entfernung zweihundertfünfzig
Fuß." Ein Raunen ging durch die Menge. Zweihundertfünfzig Fuß, wer
wollte da mit dem Pfeil ein Ziel treffen, daß nicht größer als eine
Pflaume war. "Gilbert von Leicester schießt zuerst," ordnete der
Sheriff von Nottingham als Veranstalter des Wettbewerbs an. Wieder
ging ein Raunen durch die Menge, die diesmal aber nicht ihrer
Bewunderung, sondern ihrem Unwillen Ausdruck geben wollte. Denn es
war Sitte bei einem Stichkampf, daß die Reihenfolge der Schützen
ausgelost wurde. Der erste Schütze hatte ja den Vorteil, auf eine
unversehrte Scheibe zu schießen. Gilbert zögerte einen Moment, doch
sein Gegner winkte ab. "Nimm getrost den ersten Schuß," sagte er.
Als das Hornsignal den entscheidenden Durchgang angekündigt hatte,
herrschte auf dem Kampfspielplatz atemlose Stille. Gilbert spannte
sein Bogen, legte den Pfeil auf die Sehne, visierte das Ziel an,
zog den Bogenstrang mit ganzer Kraft hinter sein Ohr und ließ den
Pfeil fliegen. Ein Aufschrei begleite den Flug. Der Pfeil hatte das
Ziel genau in der Mitte getroffen. "Gilbert von Leicester ist
Sieger," rief Prinz Johann. "Ein solcher Schuß ist nicht mehr zu
übertreffen." Die Menge jubelte Gilbert zu, der sich sehr
geschmeichelt zeigte. Er war sicher, gewonnen zu haben, und im
Gefühl des Sieges gab er sich großmütig. Mit der Hand winkte er den
Beifall ab. "Hier steht noch ein Schütze," rief er. "Warten wir den
Schuß ab." Auf den Tribünen lachten einige, als habe Gilbert einen
Scherz gemacht. Beim Volk da unten wurde zischend Ruhe gefordert.
Kein laut war zu hören, als Gilberts Gegner an die Abschußlinie
trat, sorgsam einen Pfeil auswählte, den Bogen mit gewaltiger Kraft
spannte, kurz das Ziel anvisierte und dann den Pfeil schwirren
ließ. Ein vielstimmiger Schrei erscholl. Der Pfeil hatte den mitten
in der Scheibe steckenden des Gegners der Länge nach gespalten.
"Das war ein Meisterschuß," rief Prinz Johann. "So etwas habe ich
noch nicht gesehen, Locksley gebührt den Preis. Wollt Ihr ihn ihm
überreichen, Marian?" wandte er sich an die hübsche Hofdame. Die
nickte errötend. Als Augenblick später der Sieger vor dem Prinzen
stand, um den goldenen Pfeil in Empfang zu nehmen, sagte Johann
gönnerhaft: "Empfange den Preis aus zarter Hand, Locksley. Die
Komteß wird ihn dir reichen. Robin verbeugte sich galant vor der
Dame und empfing neben den Preis einen Blick aus zwei blauen Augen.
Er wußte sofort, daß er diese Augen nicht so schnell vergessen
würde. "Locksley, ich mache dir ein Angebot," sagte Prinz Johann.
"Tritt in meine Leibwache ein. Ich kann besser schlafen, wenn ich
Schützen wie dich um mich weiß!" "Ich danke Euch für das Angebot,
mein Prinz," sagte Robin. "Doch ich muß es leider ausschlagen. Ein
Freisasse wie ich muß frei leben, er taugt nicht zum
Knechtsdienst." "Und wo lebst du frei, du Sachse? Sind nicht wir
Normannen die Herren im Land, seit mein Vorfahre Wilhelm den
Angsthasen Harald bei Hastings geschlagen hat.?" "Es gibt genügend
Plätze in England, wo ein Mann noch frei leben kann," sagte Robin.
"Zum Beispiel im Sherwood Wald!" "Er ist Robin Hood, haltet ihn,"
rief im gleichen Augenblick am Ende der Tribüne der
Steuereintreiber. Und die Ritter in der Umgebung des Prinzen
sprangen auf und zogen ihre Schwerter. "Packt ihn," brüllte der
Sheriff. "Packt ihn!" Doch Robin Hood hatte auch schon sein
Sachsenschwert in der Hand und drängte die normannischen Ritter
zurück. Behende schwang er sich auf die Brüstung der Tribüne,
schwenkte sein Schwert und lachte schallend. "Mich fangen, hahaha,
mich, Robin Hood!" Dann sprang er mit einem Satz auf die Wiese vor
der Tribüne, rannte mit großen Sprüngen auf die Männer und Frauen
des gemeinen Volks zu, die ihm bereitwillig eine Gasse öffneten,
und war auch schon in der Menge verschwunden. "Haltet ihn, fangt
ihn," brüllte immer noch der Sheriff. Robin aber sprang auf das
Pferd, das Allin hinter der Menschenmenge die ganze Zeit über am
Zügel gehalten hatte, und sprengte mit dem Sänger davon. Ehe die
normannischen Ritter schwerfällig auf ihre Pferde klettern konnten,
waren die beiden geächteten auch schon im Wald
verschwunden. |